Wiegandprozess: Richter schlagen Ende ohne Urteil vor
Am Ende schienen selbst die erfahrenen Verteidiger des Oberbürgermeisters verblüfft zu sein: Im Untreueprozess gegen Bernd Wiegand (parteilos) haben die Richter am Freitag eine vorläufige Einschätzung der Prozesslage gegeben, die juristisch wohl zugunsten Wiegands zu werten ist, politisch aber viele Fragen aufwirft. Wohlgemerkt: Die Einschätzung ist vorläufig, denn noch ist einiges ungeklärt in dem Prozess. Zwischen den Zeilen aber und auch mit einigen für den Stand des Verfahrens durchaus deutlichen Worten legten sie den Beteiligten nahe, sich jetzt schon auf eine Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage zu einigen. Beide Seiten ließen offen, ob sie dem Hinweis folgen wollen. Denn die vorläufige Sichtweise der Richter ist durchaus überraschend.
Zwar ist es im Lauf eines Verfahrens durchaus üblich, dass Richter ab und an den Beteiligten ihre vorläufige Sicht darlegen und Hinweise geben, welche juristischen Fragen sie umtreiben. Doch die Richter gingen am Freitag sehr weit auf den Angeklagten zu, mit einer Argumentation, die bisher noch nicht einmal die Verteidigung vorgetragen hatte. Sie schlossen zwar auch einen Schuldspruch weiterhin nicht aus, zu Wiegands Gunsten könnte nach neuen Erkenntnissen des Gerichts aber möglicherweise gewertet werden, dass die Landesbehörden bis in die Ministeriumsspitze des Innenministeriums hinein den Fall der drei Mitarbeiter womöglich wesentlich zeitiger geprüft haben als bisher bekannt. Das legen neue Akten nahe, die das Landesverwaltungsamt (LVwA) erst vor wenigen Tagen dem Gericht zur Verfügung gestellt hat. Bisher war der Eindruck entstanden, die juristischen Aspekte seien im Landesverwaltungsamt (LVwA) nur ansatzweise geprüft worden und erst, als es fast zu spät war, um noch einzuschreiten. Dabei hat das Innenministerium bereits im Januar 2013 das LVwA aufgefordert, die Einstellungen von Wiegands Mitarbeitern zu prüfen.
Wiegand könnte das auf zweifache Weise entlasten: Zum einen seien die übergeordneten Behörden möglicherweise trotz oder wegen ihrer Prüfung objektiv nicht eingeschritten, weshalb es schwierig werden könnte, Wiegand einen strafrechtlichen, subjektiven Tatvorwurf zu machen, so die Richter. Zum anderen könnte sich, sollte Wiegand trotzdem schuldhaft gehandelt haben, die durch die zu hohen Gehaltszahlungen entstandene Schadenssumme drastisch verringern. Denn das Gericht könnte zu dem Schluss gelangen, Wiegand nur die ersten fünf Monate – die Zeit bis zum Nichteinschreiten der Behörden – zuzumessen.
Heilung durch Nichthandeln des Landes also? Damit gerät die Frage noch stärker in den Blick, warum das Landesverwaltungsamt als mit dem Fall befasste Kommunalaufsichtsbehörde im Winter und Frühjahr 2013 nicht handelte, und ob das rechtens war. Viel hängt nun von der Zeugenaussage des damaligen Staatssekretärs im Innenministerium Ulf Gundlach(CDU) ab. Er hatte Wiegand im Mai 2013 in Magdeburg empfangen, auf wessen Initiative ist unklar. Ebenfalls im Mai waren die Verfügungen im Landesverwaltungsamt zur Entlassung der umstrittenen Mitarbeiter praktisch fertig. Nach der juristischen Fachprüfung in der Behörde waren sich die Mitarbeiter sicher, zumindest zwei von drei Arbeitsverträgen von Wiegands Mitarbeitern zu kündigen. Doch LVwA-Präsident Thomas Pleye (CDU) habe entscheiden, sie nicht abzuschicken. So hatte es eine Zeugin bereits früher im Prozess ausgesagt. Und ebenfalls im Mai 2013 wurde bekannt, dass Wiegand die Probezeiten der drei Mitarbeiter verkürzt und vor Ablauf der üblichen sechs Monate beendet hatte – warum und wann genau ist unklar. Bisher war das von der Staatsanwaltschaft als ein Indiz gewertet worden, dass Wiegand mit Vorsatz gehandelt habe. Nach den Äußerungen des Gerichts könnte diese Frage aber an Bedeutung verloren haben. „Objektiv sind Dritte nicht eingeschritten“, sagte der beisitzende Richter und Berichterstatter im Prozess Thomas Kluger. „Wir wissen aber nicht, was in dem Gespräch in Magdeburg im Mai 2013 zwischen Herrn Wiegand und Herrn Gundlach gesprochen wurde. Das ist die große Black Box.“
Offen und von Bedeutung ist nun also, was zwischen Staatssekretär und Oberbürgermeister besprochen wurde. Aufzeichnungen darüber gebe es nicht, so die Stellungnahme des Innenministeriums gegenüber dem Gericht. Informierte Gundlach den OB über die bevorstehende oder zumindest drohende Kündigung seiner Mitarbeiter? Verkürzte Wiegand daraufhin die Probezeit oder unabhängig davon? Und gab es seitens des Innenministeriums eine Anweisung an das LVwA, die vorbereiteten Kündigungsschreiben nicht abzuschicken? Offen ist auch, wie sich die möglichen Antworten auf den juristischen Tatvorwurf gegen Wiegand auswirken, denn das Gericht hat nur darüber zu befinden.
Trotz der deutlichen Hinweise des Gerichts, eine Einstellung gegen Geldauflage zu prüfen, ist der Fall juristisch für Wiegand noch nicht in trockenen Tüchern. Denn ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft kann der Prozess nicht eingestellt werden. Die Richter müssten urteilen: Freispruch oder Schuldspruch. Und auch für Wiegand, der bisher stets beteuerte, juristisch korrekt gehandelt zu haben, wäre es eine Art Schuldeingeständnis, die Geldauflage zu akzeptieren. Es wäre kein Freispruch.
Noch ist unklar, wie sich beide Seiten verhalten werden. Die Staatsanwaltschaft werde darüber beraten, kündigte Oberstaatsanwältin Heike Geyer im Prozess an. Auch Wiegands Verteidiger äußerten sich nicht zu dem Vorschlag. Man wolle die Haltung der Staatsanwaltschaft abwarten, so Rechtsanwalt Michael Nagel. Dass die Verteidigung mit der Entwicklung im Prozess durchaus zufrieden ist, darauf deutet hin, dass Nagel einen angekündigten Antrag auf Einstellung des Verfahrens nach den Äußerungen des Gerichts am Freitag nicht einbrachte. Ungeklärt ist auch, wie im Fall einer Einstellung gegen Geldauflage die Prozesskosten aufgeteilt werden – für beide Seiten eine der mitentscheidenden Fragen.
So könnte der Prozess also entweder bald ein schnelles aber in den wesentlichen Fragen unklares Ende ohne Urteil finden, oder es könnte erst einmal weiter verhandelt werden – bis zu einem Urteil in Monaten, einer möglichen erneuten Revision und einem dann vielleicht endgültigen Abschluss.