Die aufschlussreichen Akten
Im Untreueprozess gegen Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) hat das Gericht am möglicherweise drittletzten Verhandlungstag versucht, weiter Licht in die Vorgänge zwischen OB und Kommunalaufsicht in den mitentscheidenden Wochen im Frühjahr 2013 zu bringen. Urkundenbeweis heißt das im Prozessdeutsch und läuft so ab, dass der Vorsitzende Richter aus umfangreichen Akten vorliest. Und Gerhard Köneke las vor. Briefe, Erlasse, E-Mails und Vermerke, über zwei Stunden lang, vom mutmaßlich Nichtigsten zum mutmaßlich Wichtigsten.
Besonders wichtig unter all den Schreiben, die zwischen Januar und Mai 2013 hin und hergingen, war ihm aber offenbar ein Schreiben, das vom Landesverwaltungsamt nie abgeschickt worden ist: die Zwangskündigung für zwei der vier umstrittenen Mitarbeiter des Oberbürgermeisters, Oliver Paulsen und Martina Wildgrube. Es war von den zuständigen Stellen in der Aufsichtsbehörde zwar erstellt, dann aber im letzten Moment zurückgehalten und nicht abgeschickt worden.
Es ist der 8. Mai 2013, der Mittwoch vor dem Himmelfahrtstag vor vier Jahren. Nach langem Hin und Her mit der Stadtspitze ist die Kommunalaufsicht offenbar am Ende ihrer Geduld. Der OB hat, so lesen sich die Akten, wiederholt Unterlagen nicht vollständig geliefert und Fristen verstreichen lassen. Nun soll die letzte Option gezogen werden: Wiegand soll zwei seiner Mitarbeiter entlassen, sonst wird das Landesverwaltungsamt es tun. Es hält die zwei von insgesamt vier externen Einstellungen, die der OB am 1. Dezember 2012, dem Tag seines Amtsantritts, unterschrieb, aufgrund der damals geltenden vorläufigen Haushaltsführung für rechtswidrig.
Herr Pleye hat mich telefonisch gebeten, ausdrücklich die Zustimmung von Herrn Gundlach zu erbitten. (Mitarbeiterin im Landesverwaltungsamt)
Die Zeit läuft, denn die übliche Probezeit von sechs Monaten würde zum 1. Juni 2013 ablaufen. Danach könnte man die Mitarbeiter nicht mehr ohne Weiteres kündigen. Der mutmaßliche Schaden für die Stadt wäre nicht mehr heilbar. Am 8. Mai also steht die auf Sachbearbeiterebene schon vorbereitete Entscheidung kurz bevor. Sie soll noch am selben Tag der Stadt mitgeteilt werden. Ein Beamter im Innenministerium gibt per E-Mail grünes Licht. Doch am Nachmittag, kurz vor Feierabend, verschiebt das Landesverwaltungsamt die Übersendung des Entlassungsbefehls noch einmal. Eine Mitarbeiterin schreibt noch eine letzte E-Mail an das übergeordnete Innenministerium: „Herr Pleye [der Präsident des Landesverwaltungsamts, Anm. d. Red.] hat mich telefonisch gebeten, ausdrücklich die Zustimmung von Herrn Gundlach zu erbitten“, zitiert Richter Köneke aus der Mail. Die Verfügung soll, so heißt es dort weiter, nun erst am Freitag nach dem Feiertag an die Stadt geschickt werden – eine letzte kleine Verzögerung. Gundlach ist zu der Zeit der zuständige Staatssekretär im Innenministerium. Zum Einschreiten der Kommunalaufsicht und der Entlassung der mutmaßlich rechtswidrig eingestellten Mitarbeiter jedoch wird es nach dieser Mail nicht mehr kommen.
Denn am Himmelfahrtstag schreibt Staatssekretär Gundlach morgends um 7:04 Uhr eine Mail zurück an den zuständigen LVwA-Referatsleiter: „Ich kenne den zugrundeliegenden Sachverhalt nicht und kann ihn auch nicht beurteilen“, heißt es dort. Doch Gundlach stellt noch eine Frage: Ob der OB die Leute denn gleich wieder einstellen könne, sollte der Stadtrat den damals in der Schwebe hängenden Haushalt neu beschließen? Die Frage wird zum Kernthema. Zwar hatten sowohl im Innenministerium als auch im Landesverwaltungsamt die Fachleute betont, es gebe in den beiden Fällen auch mit gültigem Haushalt und Stellenplan keine Alternative zu einem längeren Ausschreibungs- und Mitbestimmungsverfahren, doch am Feiertag ist diese Erkenntnis in der Leitungsebene offenbar verflogen oder zumindest nicht verfügbar.
Herr Pleye rief mich um 8:55 Uhr aus seinem Urlaub wegen der beabsichtigten Entlassungen an. Er wies mich an, die Verfügung nicht bekanntzugeben. (Vermerk eines Referatsleiters im Landesverwaltungsamt)
Was dann mutmaßlich passiert, rekonstruiert das Gericht aus einem Aktenvermerk des Referatsleiters im Landesverwaltungsamt: Dieser muss am Freitag nach Himmelfahrt, dem 10. Mai 2013, Gundlachs E-Mail bekommen haben und kurze Zeit später von seinem Chef, LVwA-Präsident Thomas Pleye, angerufen worden sein. „Herr Pleye rief mich um 8:55 Uhr aus seinem Urlaub wegen der beabsichtigten Entlassungen an. Er wies mich an, die Verfügung nicht bekanntzugeben“, sie also auch am Freitag nicht loszuschicken. Zu Pleyes Begründung vermerkt der Referatsleiter, offenbar um sich selbst abzusichern, dass Staatssekretär Gundlach die Entscheidung nicht mittrage. Eine Entlassung der Mitarbeiter sei laut Gundlach, so heißt es sinngemäß im damaligen Vermerk, unverhältnismäßig angesichts der bevorstehenden Legalisierung des Haushalts. Später ruft auch Gundlach selbst noch beim Referatsleiter an, mit selbem Tenor, was dieser ebenfalls vermerkt.
Was erst später klar wird: Alle Bemühungen des Landesverwaltungsamts sind zu diesem Zeitpunkt möglicherweise schon umsonst, denn Wiegand hat die Probezeit der vier Neueingestellten bereits Ende März 2013 persönlich verkürzt. Was Wiegand und seine Verteidiger für einen normalen Vorgang halten – seine persönlichen Mitarbeiter hätten sich außerordentlich bewährt und vorbildliche Arbeit geleistet -, wertet die Staatsanwaltschaft als Teil eines vorsätzlichen Tatplans. Denn im Zuge des oben erwähnten Hin und Her zwischen Kommunalaufsicht und Stadtoberhaupt war Wiegand bereits am 28. März 2013 die Zwangsentlassung der zwei Mitarbeiter angekündigt worden, um dem OB Gelegenheit zur Widerrede zu geben. Nur zwei Tage später soll er dann die Probezeiten verkürzt haben. Wiegands Verteidigung hat im Prozess alle Vorwürfe zurückgewiesen und außerdem erklärt, dass Probezeit und Entlassung innerhalb der Sechsmonatsfrist zwei unterschiedliche Dinge sind. Die Kommunalaufsicht hätte laut Tarifrecht, so die Lesart, auch trotz verkürzter Probezeit innerhalb von sechs Monaten kündigen können. Hat sie aber nicht.
Ulf Gundlach hat in seiner Zeugenvernehmung vor einer Woche die Kenntnis des Vermerks des Referatsleiters bestritten und ausweichend ausgesagt. Er habe keine konkreten Erinnerungen mehr, weder an ein Gespräch mit Wiegand im Ministerium noch an die Mails und Telefonate mit dem Landesverwaltungsamt. Mit den Akten konfrontiert, sagte er, er müsse eine Kündigung der Mitarbeiter, ohne die Problematik der höheren Erfahrungsstufen zu kennen, für unverhältnismäßig gehalten haben, da sie kurze Zeit später wieder hätten eingestellt werden können.
Es ist inzwischen eine der Hauptfragen, ob das Nichteinschreiten von Pleye und Gundlach im Mai 2013 Wiegand entlastet. Hätte die Kommunalaufsicht die Mitarbeiter entlassen, wäre der mutmaßliche Schaden begrenzt gewesen. Weil sie es nicht tat, muss sie ihn sich möglicherweise ab Mai 2013 zurechnen lassen, und nicht Wiegand allein, was Einfluss auf ein Urteil hätte – immer die geltende Unschuldvermutung mitbeachtet, dass es möglicherweise auch absolut in Ordnung war, die Mitarbeiter einzustellen, wie es Wiegands Verteidigung von Anfang an vorbringt.
Folgt das Gericht jedoch einer Schuldspur, könnten aus dem Aktenstudium sogar noch neue Unannehmlichkeiten für Wiegand erwachsen, die bisher im Prozess noch gar keine prominente Rolle gespielt haben. Denn plötzlich steht nicht mehr nur die höhere Eingruppierung von vier Mitarbeitern zur Debatte, deren Schadenshöhe hoch umstritten ist, sondern auch, ob zumindest zwei davon gänzlich zu Unrecht eingestellt worden sind. Diese Spur hat das Gericht gestern ausdrücklich zur Hauptspur im Prozess erklärt. „Das wollen wir wesentlich mehr verfolgen [als die Erfahrungsstufen 5, Anm. d. Red.]“, so Köneke. Wären die Mitarbeiter gänzlich zu Unrecht eingestellt worden, wäre wiederum deren volles Gehalt als Schadenssumme denkbar und nicht nur die Differenz zwischen Erfahrungsstufe eins und fünf, wie sie die Staatsanwaltschaft in der Anklage angesetzt hat. Aber auch hier muss Wiegand Vorsatz nachgewiesen werden.
Der Oberbürgermeister und seine Verteidiger haben stets alle Vorwürfe zurückgewiesen. Nach Ansicht des OB hat er bei der Einstellung der vier Mitarbeiter keine Rechtsfehler begangen, denn es habe im Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst eine entsprechende Klausel für die Höhervergütung gegeben. Auch seien in der Stadt genug Stellen vorhanden gewesen, um die Mitarbeiter einzustellen.
Die Einvernahme des Ministers ist möglicherweise nicht erforderlich. (Richter Gerhard Köneke)
Trotz dieser offenen Fragen, könnte der Prozess schon am übernächsten Prozesstag, am 6. Oktober, zu Ende gehen. Richter Köneke sagte heute, er könne sich eine Entscheidung an diesem Tag vorstellen, die Beteiligten sollten sich darauf vorbereiten, an diesem Tag ihre Plädoyers zu halten. Der Plan ist allerdings ehrgeizig. Denn zuvor müssten am selben Tag noch zwei wichtige Zeugen gehört werden. Zum zweiten Mal ist OB-Büroleiterin Sabine Ernst geladen. Und nun soll auch LVwA-Präsident Thomas Pleye aussagen. Auch neue Beweisanträge könnten den Verfahrensplan allerdings noch einmal durcheinanderbringen – oder neu aufgeworfene Fragen aus diesen letzten Zeugenvernehmungen. Nicht ausgeschlossen ist nämlich auch, dass auch noch Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) vor Gericht zitiert werden könnte. Zwar sagte Köneke heute, möglicherweise sei „die Einvernahme des Ministers nicht erforderlich“, es war aber das erste Mal, dass er sie überhaupt ernsthaft in Erwägung zog. Es kommt wohl darauf an, was Thomas Pleye zu sagen hat.