Tullner sammelt Schülerdaten
Zehntausende Schüler in Sachsen-Anhalt bekommen demnächst Post mit nach Hause. Fragebögen, mit denen ihre Daten erfasst werden sollen und in denen die Eltern ihre Zustimmung erklären müssen, dass ihre Kinder ein mittlerweile an vielen Schulen selbstverständliches Angebot wahrnehmen können: wenn es Probleme gibt, zum Schulsozialarbeiter zu gehen. Vier Seiten ist der Fragebogen lang, der nicht nur persönliche Daten sondern auch Angaben zur sozialen Situation der Familie abfragt.
Grund für die Datenerfassung ist eine geänderte Richtlinie des Bildungsministeriums. Bildungsminister Marco Tullner (CDU) hat die bereits von seinem Vorgänger Stefan Dorgerloh (SPD) initierte und am 6. April, also nach der Landtagswahl und während der Koalitionsverhandlungen, in Kraft gesetzte Änderung quasi geerbt und treibt nun ihre Umsetzung voran. Nun sind alle Träger von Schulsozialarbeitern und auch die Schulen, an denen sie arbeiten aufgefordert, die Daten zu erheben. Schüler, die die Fragebögen nicht abgeben, könnten nicht mehr zum Schulsozialarbeiter gehen, so die Befürchtung der Gewerkschaft GEW und von Sozialverbänden.
Die Interessensgruppen laufen bereits seit Wochen Sturm gegen die neue Richtlinie, denn sie erschwere die Arbeit der Sozialarbeiter immens und führe zu einer kaum beherrschbaren Datenflut. Die LIGA der freien Wohlfahrtspflege geht von 70.000 betroffenen Schülern aus. Auch bestehe die Gefahr, dass die eigentliche Zielgruppe, nämlich Schüler mit Problemlagen, nun gerade nicht mehr angesprochen werden könnten.
Bildungsminister Marco Tullner hat bereits in einem Brief an die GEW reagiert und Verständnis geäußert. Doch sei er an Vorgaben der EU gebunden. Der bei weitem überwiegende Teil der sachsen-anhaltischen Schulsozialarbeiter wird nämlich über das EU-Programm „Schulerfolg sichern“ des Europäischen Sozialfonds finanziert. Um eine ordnungsgemäße Verwendung der EU-Gelder nachweisen zu können, sei die Datenerhebung nötig. Die GEW hingegen verweist auf andere Bundesländer wie Sachsen, die andere Wege gefunden hätten, die Kriterien der EU zu erfüllen.
Die geänderte Richtlinie sorgt bereits seit Wochen für Aufregung unter den Trägern. Mehrere haben sich bereits mit Protestnoten an Minister Tullner gewandt. „Es ist Irrsinn, was da stattfindet“, sagte GEW-Sekretär Frank Wolters auf Nachfrage. „Es gibt keine strenge Vorgabe der EU, wie die Daten erhoben werden müssen.“ Die GEW erwarte, dass die Regelung noch einmal überarbeitet werde.
Auch die LIGA der freien Wohlfahrtspflege in Sachsen-Anhalt, der Dachverband der in der Schulsozialarbeit engagierten Träger, äußert sich kritisch: „Wir versuchen gerade Kinder und Jugendliche zu erreichen, die bestimmte Probleme haben, die vielleicht sogar davor stehen, die Schule abzubrechen“, sagt LIGA-Geschäftsführerin Manuela Knabe-Ostheeren. „Für solche Schüler wird es womöglich schwer, eine Unterschrift der Eltern und deren Selbstauskunft zur sozialen Lage zu bekommen. Ohne diesen Fragebogen aber können wir sie dann nicht mehr betreuen.“ Die LIGA befürchtet zudem zusätzliche Verwaltungsarbeit bei den Trägern. „Es ist total offen, wie das gehen soll“, so Knabe-Ostheeren, „und es ist auch noch nicht geklärt, wie der Zusatzaufwand finanziert werden soll.“
Ministeriumssprecher Stefan Thurmann sagte: „Die Vorgabe zur Datenerhebung kommt aus Brüssel. Wir haben uns das nicht ausgedacht.“ Man müsse nun gemeinsam mit den Trägern daran arbeiten, dass die EU-Vorgaben umgesetzt würden. „Es ist keinem geholfen, wenn die Abrechnung der Mittel am Ende nicht funktioniert“, so Thurmann. Bildungsminister Marco Tullner habe alle Schulen aufgefordert, die Schulsozialarbeiter bei der Erhebung der Daten zu unterstützen. „Wir sehen keine andere Möglichkeit“, so Thurmann.
Anmerkung: In einer früheren Fassung hieß es irrtümlich, die Änderung der Richtlinie sei durch Bildungsminister Marco Tullner geschehen. So entstand der Eindruck, sie ginge allein auf ihn zurück und nicht bereits auf die Vorgängerregierung. Die entsprechende Passage wurde geändert.
Hier der vierseitige Fragebogen zur Schulsozialarbeit.
Reaktionen und Hintergründe fasse ich fortlaufend auf auf dieser Seite zusammen.