Genscher: Ehre, wem Ehre gebührt! – ein Kommentar
Für die politische Führung in einer Stadt ist der Oberbürgermeister die erste Adresse, an die man sich normalerweise wendet. Als administratives Stadtoberhaupt sollte er nicht dekretieren, aber mit Gespür für die öffentliche Meinung und die Stadtpolitik die Debatte organisieren. Er sollte keinen Zweifel aufkommen lassen, dass die Stadt dem Ehrenbürger ein würdiges Gedenken bereiten wird, und dann die Zügel der Debatte in der Hand halten, um so die Meinungsbildung zu ermöglichen. Bernd Wiegand (parteilos) hat das eine getan und dann das andere gelassen.
Er hat, und das war gut, einen Zweifel an Genschers Ehrwürdigkeit gar nicht erst aufkommen lassen. Denn Genscher ist wohl der bedeutendste hallesche Sohn des 20. Jahrhunderts. Sicher, das Prinzip der Ehre ist eines der schwierigsten Themenfelder in einer Demokratie. Zu Recht tut sie sich in Deutschland, nach all den personenkultigen und autoritären Auswüchsen der Vergangenheit, schwer damit. Aber auch ein demokratisches Staatswesen braucht Bezüge, braucht Erzählungen, braucht die guten Beispiele der Vergangenheit. Das Argument, Politiker hätten dabei nichts mehr auf Straßenschildern oder als Namenspatronen zu suchen, ist grotesk. Denn wer so argumentiert, nimmt Politik in einer Demokratie nicht ernst und spielt so gerade das Spiel der Populisten.
Ja, Genscher war Politiker, und als solcher war er auch umstritten. Die Kritik an Genschers Politik oder an einzelnen seiner Maßnahmen, soll nicht unter den Tisch fallen, auch nicht, wenn historisch über Genscher gesprochen wird. Aber er war eben auch Staatsmann, er hat Verdienste durch jahrzehntelange politische Arbeit als Minister, durch das Prägen historisch bedeutsamer Momente und Entscheidungen insbesondere für die deutsche und die europäische Einigung. Genscher verdient Ehre als eine – nicht als einzige – Verkörperung einer großen politischen Idee, des Liberalismus, und nicht zuletzt auch durch seine lebenslange Verbundenheit seiner Heimatstadt gegenüber. Eine Demokratie, die den Unterschied zwischen Politiker und Staatsmann über politische Meinungsverschiedenheiten und ideologische Grenzen hinweg nicht mehr sehen kann, beraubt sich ihrer grundlegenden Erzählungen, zertrümmert den Boden unter den eigenen Füßen und versinkt im Treibsand willkürlicher Beliebigkeit. Wohlgemerkt: Der Streit darüber, wer als Staatsmann zu gelten hat und wer nicht, ist natürlich legitim.
OB Wiegand hat die Zügel der Debatte aus der Hand gegeben
In Genschers Fall ist aus hallescher Perspektive jedoch der Zweifel klein. Und für so einen Fall hatten die alten Römer dann die nicht ganz falsche Maxime de mortuis nil nisi bene – über die Toten nichts außer Gutes. Sie meint, durch eine aufgeklärte Brille betrachtet, nicht Kritiklosigkeit, denn Fehler und Schwächen gereichen dem demokratischen Staatsmann nicht zwangsläufig zur Unehre. Mit ihren Schurken gingen die Römer übrigens ungeachtet der Maxime gleichfalls äußerst hart ins Gericht. Heute sollte die Maxime jedoch eines lehren: Klarheit im Ziel, eine große Persönlichkeit angemessen zu ehren.
In Halle ist diese Klarheit verloren gegangen, und der Zeitpunkt lässt sich eindeutig bestimmen: als Oberbürgermeister Wiegand die Zügel der Debatte aus der Hand gab. Der erste Impuls, die Federführung der halleschen FDP im Stadtrat zu übertragen, mag noch sinnvoll gewesen sein. Denn in Sachen politischer Führung wäre beim Thema Genscher die FDP in der Tat die zweite Adresse gewesen. Seine Partei, die in Halle einst besonderes Gewicht hatte – Genschers wegen. Doch die FDP ist gescheitert. Zwar hatte sie mit der Umbenennung der Delitzscher Straße die beste Idee (mehr dazu später), aber sie hatte nicht die Führungskraft und Genschers taktisches und rhetorisches Geschick, im Stadtrat eine Mehrheit zu gewinnen. Schon die Sitzungen der Arbeitsgruppe sollen chaotisch gewesen sein. Die FDP ist nach Genschers Tod in Halle keine politische Kraft mehr.
Wiegands hat das erkannt – und dann alles noch schlimmer gemacht. Vielleicht hätte der Stadtrat das Willensvakuum mit der Zeit aus eigener Kraft geheilt. Wiegand stattdessen folgte dem hohlen Druck der Mitteldeutschen Zeitung, die schon seit Monaten eine Kampagne für Genscher geführt hatte und die dabei journalistischen Anstand und publizistische Größe immer mehr über Bord warf. Man kann die MZ entschuldigen: Genscher hatte nach allem, was bekannt ist, eine nicht unwesentliche Rolle beim Übergang der früheren „Freiheit“ zur DuMont-MZ gespielt und war später langjähriger Kolumnist der Zeitung. Dass die MZ dennoch so durchsichtig, und extrem einseitig Propaganda machte, dass es selbst dem unbedarftesten Leser auffiel, stärkte eher das genscherkritische Lager beziehungsweise polarisierte die Debatte so („peinliches Theater im Stadtrat“), dass sie beinahe auf vordemokratisches Niveau zurückfallen musste. Das hätte Genscher nicht gewollt. Wiegand hat es zumindest in Kauf genommen. Die Idee einer Telefonumfrage (TED) als Präjudiz einer demokratischen Ehrenentscheidung ist grotesk. Dass sich Wiegand dann den TED-Vorschlag (Bahnhofsvorplatz) ohne Weiteres zueigen machte, ist beschämend. Denn der Vorschlag ist bei näherer Betrachtung schlecht und ehrlos.
Delitzscher Straße ist ein ehrenvoller Kompromiss
Man muss, auch mit ein wenig Hintergrundwissen über die internen Abläufe, erwähnen: Ein MZ-TED ist in der Regel weder aussagekräftig noch repräsentativ. Dort stimmt die Splittergruppe einer anderen Splittergruppe ab, denn die MZ-Leser repräsentieren nach Alter und Sozialstatus längst nicht die Hallenser, Tendenz weiter fallend. Das Ergebnis wird auch nicht notariell oder sonstwie unabhängig überwacht. Auch wenn es die Leserbriefspalten anders suggerieren: Der Mehrheit der Hallenser ist die Causa Genscher wohl total egal – so egal, wie einer noch größeren Mehrheit und den Gästen der Stadt der Bahnhofsvorplatz sein dürfte. Seine Vorzüge machen ihn genau zu dem Ort, der für eine wirkliche Genscherehrung nicht in Frage kommen sollte: Kaum jemand hat seine Adresse dort. Aber An- und Absender in Geschäfts- und Privatpost verbreiten einen Straßennamen wesentlich wirksamer als es jedes Straßenschild oder jeder Stadtplan kann. Anrainer hätten freilich einmalige Umstellungskosten. Die Umbenennung des Bahnhofsvorplatzes kostet dagegen so gut wie nichts. Er wäre ein schäbig-billiger Genscherplatz.
Warum das Geld immer wieder als Hindernis für eine Ehrung herhalten muss, erschließt sich nicht. Warum darf eine Ehrung Stadt, Bürger und Unternehmen nichts kosten? Welches Signal sendet das aus? Es müssen nicht ein Triumphzug und tage- oder wochenlang Brot und Spiele sein, wie im Alten Rom. Aber eine Hundert-Euro-Ehrung? Und wieso kann man nicht Wege suchen, die Kosten für eine sinnvolle Ehrung zu minimieren (etwa durch lange zeitliche Übergangsfristen und ähnliches), statt die Kosten selbst zur obersten Prämisse zu machen?
Die FDP hatte Recht: Die Delitzscher Straße wäre ein sehr guter und dazu ein ehrenvoller Kompromiss mit mehreren charmanten Fußnoten: Sie führt zum Geburtsort des Halle-Sohns nach Reideburg, Genscher hat sie also mutmaßlich auf dem Weg zum Gymnasium oft benutzt. Sie ist stadtbildprägend, also der Persönlichkeit Genschers angemessen – hilfsweise könnte man nur einen Teil der Straße umbenennen, wie seinerzeit in der Puschkinstraße. Und zu guter Letzt hätte sogar das Genscher-Blatt MZ etwas davon: Medienhaus Mitteldeutsche Zeitung in der Hans-Dietrich-Genscher-Straße – eine Win-Win-Situation. Die Kosten könnte der Verlag sicher aus der Portokasse des konzerneigenen Briefdienstes bezahlen.
Bürgerentscheid wäre angemessen
Noch ein Wort zur Genscher-Opposition. Auch sie hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Dass sich das Herdergymnasium nach schulinterner Gremiendebatte in Genschergymnasium umbenennen will, muss die Linke akzeptieren. Sie hat nicht viele Argumente. Der Respekt vor und die Stärkung von schulinternen demokratischen Prozessen gehört zu ihrem Parteiprogramm. Sie hätte sich vor Ort einmischen müssen, wenn sie es hätte verhindern wollen. Und der grüne Stadtrat Christian Feigl, der sich als deutlichster Kritiker exponiert hatte und MZ-seits ordentlich hatte einstecken müssen, hat sich ebenfalls zum Teil unglaubwürdig gemacht: Nicht weil er gegen Genscher gewesen wäre – seine Position ist wohltuend differenziert und trotzdem sachorientiert. Aber Medienschelte, wie Feigl sie in einem offenen Brief äußerte, läuft ins Leere, wenn man das Angebot eines Interviews hatte.
Bekommt Halle in dieser schwierigen Debatte noch die Kurve? Oberbürgermeister Wiegand hat den ersten Schritt gemacht. Es soll eine würdige Gedenkfeier zum ersten Todestag Genschers am 31. März geben. Gut so! Wenn sich der Stadtrat das nächste Mal wieder mit Genscher befasst, liegen die Schulumbenennung und der Genscher-Bahnhofsplatz auf dem Tisch.
Zwei Vorschläge dazu: 1. Die Schule bestätigen. Das setzt das Schulvotum um und gewinnt Zeit für die Straßendebatte. Denn den Bahnhofsplatz sollte man, 2., zugunsten einer wirklichen Ehrung noch einmal zur Diskussion stellen und dann hoffentlich beerdigen.
Am Ende könnte in Sachen Hans-Dietrich-Genscher-Straße ein Bürgerentscheid stehen. Als Beispiel:
Wollen Sie, dem Vorschlag des halleschen Stadtrats und Oberbürgermeisters folgend, dass die Delitzscher Straße in Hans-Dietrich-Genscher-Straße umbenannt wird?
Warum nicht? Und parallel zur Bundestagswahl abgehalten, hielten sich auch die Kosten in Grenzen. Ein Vorschlag zur Güte. Bitte diskutieren.
Anmerkung: In einer ersten Fassung hieß es, der Stadtraz behandle das Thema im Januar. Bisher steht es aber noch nicht auf der Tagesordnung. Ich habe die entsprechende Passage daher geändert.